„Wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.“ (Richard von Weizsäcker, 1985)
Dank zweier Zeitzeuginnen, Frau Urban und Frau Steinbach, konnten wir uns in einem Zeitzeugengespräch im Stuttgarter Haus der Heimat über die Umstände von Flucht und Vertreibung informieren. Das Schicksal der beiden Frauen schockierte und berührte uns zugleich.
Frau Urbans Geschichte beginnt im Januar 1945. Die damals 16-Jährige wohnte in Breslau, als die Stadt zur Festung ausgerufen wurde, um die Rote Armee, welche nur noch ca. 30 km von der Stadt entfernt war, aufzuhalten. Frauen und Kinder mussten die Stadt verlassen. Obwohl Frau Urbans Vater noch aus dem Ersten Weltkrieg verwundet war, wurde er in den Volkssturm einberufen. Da keine Züge mehr fuhren, flohen sie mit einem Fahrradanhänger zu Verwandten ins Riesengebirge. Zu diesem Zeitpunkt hofften sie noch auf eine Rückkehr nach wenigen Wochen. Doch die Zeit bei ihren Verwandten im Riesengebirge dauerte nur vier Wochen, danach veranlasste sie die Knappheit an Lebensmitteln und ein Erlass der Regierung, weiterzuziehen. So zogen sie auf mit Flüchtlingen verstopften Straßen weiter nach Trautenau im heutigen Tschechien. Den Weg dorthin beschrieb Frau Urban uns als wahre Odyssee, da die Zustände auf den Straßen katastrophal waren. Um weiter in Richtung Westen zu gelangen, verbrachten sie mehrere Nächte in Trautenau auf den bitterkalten Bahnsteigen, um daraufhin in einem Güterzug 10 Tage lang nach Niederbayern zu fahren. Unterwegs erlebten sie zum ersten Mal Tieffliegerangriffe. Über viele weitere Umwege gelangte Frau Urban dann schließlich ca. 1950 nach Mannheim, wo sie bis heute lebt.
Nun begann Frau Steinbach, welche ein wenig später in der Nähe von Königsberg geboren wurde, uns ihre Geschichte zu erzählen: Gegen Ende des Krieges war sie ein kleines Mädchen von ca. neun Jahren. Als die Rote Armee kurz vor ihrer Heimatstadt Labiau (heutiges Russland) stand, floh sie mit ihrer Familie nach Landsberg (heutiges Polen). Nach dem Aufenthalt in Landsberg gelangten sie in ein kleines Dorf in der Nähe, welches die Rote Armee wenig später erreichte. Eigentlich sollten in diesem Dorf die Frauen und Kinder in Sicherheit gebracht werden, sie wurden jedoch trotzdem von den sowjetischen Truppen erwischt. Auch sonst waren die Zustände schrecklich: Etwas zu essen gab es schon lange nicht mehr; dazu gab es überall Tote, auch die dauerhafte Beschallung mit Stalinorgeln war für die Zivilbevölkerung sehr strapazierend. In der Potsdamer Konferenz wurden dann alle Gebiete neu verteilt; dabei wurde Landsberg ein Teil von Polen. Wer kein Pole werden wollte, wurde nach Deutschland ausgewiesen. Dies geschah dann auch mit Frau Steinbach. Während sich der Vater in russischer Kriegsgefangenschaft befand, kam sie in einem Viehtransport nach Stettin und von dort aus nach Uelzen in der englischen Besatzungszone, wo sie zum ersten Mal nach drei Wochen etwas zu essen bekam.
In der anschließenden Diskussionsrunde erfuhren wir, dass die beiden Zeitzeuginnen auch einige schöne Erlebnisse hatten – soweit man das sagen kann. Dazu gehörten teilweise völlig banale Dinge wie ein Porzellanservice am Geburtstag einer Tante. Auch war die große Hilfsbereitschaft mancher Menschen ein unglaublich positives Erlebnis auf dieser Flucht.
Wir bedanken uns sehr herzlich für diese offenen und zugleich prägenden Gespräche. Die Schilderungen haben uns tief berührt – so wurde Geschichte für uns sehr lebendig und persönlich. (Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 1)